«Die Buchhaltung und das Rechnen waren schon in der Lehre mein Hobby»
Robert Etter hat eine berufliche Laufbahn hinter sich, die ihn von der Textilindustrie bis zur Computerisierung quer durch die Schweiz geführt hat. In seinem Zuhause in Bern reflektiert er über seine Karriere, die ebenso vielfältig wie beeindruckend ist.
Robert Etter auf seinem Lieblingsplatz zuhause im Berner Liebefeld-Quartier. Foto: Mia Mader und Dominic Iseli.
Umgeben von einem gepflegten Garten, mitten im Berner Liebefeld-Quartier, steht ein kleines weisses Haus. Rasch öffnet sich die Tür und ein älterer Mann und eine Frau strecken uns ihre Hände entgegen: «Kommen Sie herein, kommen Sie herein.» Ein kurzer Korridor führt vorbei an einer hölzernen Sitzecke ins Wohnzimmer. Der Raum ist lichtdurchflutet und bietet einen Ausblick über Teile der Stadt Bern. Zwei Sofas bilden eine Art Sitzecke und laden ein, sich hinzusetzen. «Meine Frau und ich kommen beide aus Frauenfeld, wir sind zusammen hierhergekommen», erklärt Etter und macht es sich auf dem schwarzen Ledersofa bequem.
Durch Zufall in die Textilbranche
Seit 30 Jahren ist Etter nun schon pensioniert. Bis dahin war er an vielen verschiedenen Arbeitsstellen tätig gewesen. «Ich hatte ein wirklich interessantes Leben», sagt der 1936 geborene Frauenfelder. Seine Karriere begann in der Textilindustrie, führte ihn über administrative und technische Positionen bis hin zu den Anfängen der Computerisierung: «Die Buchhaltung und das Rechnen waren schon in der Lehre mein Hobby.»
Der Computer brachte Robert Etter keine Entlassung, sondern eine einzigartige Karriere. Foto: Schweizerisches Sozialarchiv.
Als Kaufmann bei einer landwirtschaftlichen Genossenschaft fand Etter zu seiner Leidenschaft. In die Textilindustrie und damit zur Firma FATEX AG kam er durch reinen Zufall, wie er selbst sagt: «Nach der Rekrutenschule hätte es auch irgendeine andere Firma werden können.» Trotzdem blieb Etter für zwei Jahre bei der Textilfirma. Doch mit dem Handwerk an sich kam er nur selten in Kontakt. Die Männer sassen im Büro, während sich bis zu hundert Textilarbeiterinnen in der Fabrikhalle den Näharbeiten widmeten.
Der Herr über das Geld
Die FATEX AG war die Holding über drei rechtlich selbstständige Tochterfirmen: Dazu gehörte die WEBAG, die AG für Herrenkonfektion in Zürich sowie die W. Bollag AG, die im selben Gebäude in Frauenfeld wie die FATEX AG beheimatet war. Der Inhaber Walter Bollag begann als junger Mann im Keller seines Elternhauses mit der Herstellung von Damenkleidern und gründete 1932 sein eigenes Textilunternehmen. Bis 1990 war Bollag ein Kleiderhersteller aus der Ostschweiz und produzierte Damen- und später auch Herrenkonfektionen, die vor allem nach Deutschland und Skandinavien exportiert wurden.
Robert Etter war im Rechnungswesen der FATEX AG angestellt. Hier wurden die Finanzen aller vier Firmen gesteuert, beispielsweise die gesamten Zahlungsvorgänge der Tochterfirmen ausgelöst oder die Zahlungseingänge aller Kunden kontrolliert. Das Rechnungswesen bestand aus drei kaufmännisch Ausgebildeten – der Chef und zwei Angestellte, einer davon war Etter –, fünf bis sechs Angelernte sowie eine Sekretärin. Alle waren in einem engen Büro einquartiert, der Vorteil war der kurze Informationsfluss. Die beiden Angestellten führten in erster Linie die Kreditoren- und Debitorenbuchhaltung von je zwei Firmen und erstellten die 14-täglichen Löhne der Näherinnen der Firma W. Bollag AG.
Akkordlohn für Näherinnen
Die Angelernten waren ehemalige Näherinnen. Im Büro wurden sie nicht mehr nach Akkord, sondern mit einem fixen Monatslohn bezahlt. Akkord bedeutet, dass für jede Arbeitsposition einer neuen Kollektion eine Anzahl Minuten für die Entlöhnung festgelegt wurde. Die Hauptaufgabe der Angelernten war das 14-tägliche Zusammenfassen der Akkordrapporte der Näherinnen, wobei aus den geleisteten Minuten die Anzahl der vergütenden Stunden berechnet wurde. Dies musste manuell gemacht werden, ein Rechner mit Multiplikation und Division kostete damals mehrere Tausend Franken – ein Luxus bei durchschnittlichen Monatslöhnen unter Tausend Franken. Die beiden Angestellten hatten nur noch die eigentliche Lohnabrechnung mit allfälligen Zulagen und Abzügen zu erstellen. «Die Frauen konnten zwar lesen und schreiben, mussten aber – auf Deutsch gesagt – den Mist machen für uns», sagt Etter.
Wenn nötig, mussten die Mitarbeiter des Rechnungswesens aber auch in anderen Abteilungen einspringen. So konnte es vorkommen, dass Herr Bollag an einem Morgen kurzfristig nach Italien flog, um am nächsten Tag Stoffe einzukaufen. Die meisten Stoffe stammten damals aus Italien. Die Mitarbeiter wurden in die Einkaufsabteilung delegiert und mussten die Kundenaufträge aller Firmen auf bestimmte Stoffe durchsuchen, damit Herrn Bollag am Abend die notwendigen Mengen telefonisch durchgegeben werden konnten.
Der junge Robert Etter, aufgenommen während seiner Zeit bei der Bollag AG. Foto: Robert Etter.
Etter hat die Zeit bei der FATEX AG in guter Erinnerung. «Für mich als junger ‹Schnufer› war das natürlich höchst interessant», meint Etter. Er musste nicht nur die Büroarbeiten erledigen, sondern auch die Couverts mit den Löhnen verteilen. Alle 14 Tage gab es den Lohn für die Fabrikarbeiterinnen. «In der Mitte der Fabrikhalle stand ein Glaskasten, von dem aus die Mutter von Herrn Bollag den Überblick über die Arbeiterinnen hatte», sagt Etter. Alle zwei Wochen durften die Näherinnen ihren Zahltag abholen. Doch mit der Zeit kannte er die Frauen und steckte ihnen, wenn sie auf dem Weg zur Toilette waren, die Couverts schon etwas früher zu, erzählt er und schmunzelt. Das funktionierte jedoch nicht immer: «Frau Bollag hat zum Teil gewartet, bis die Frauen zurückkamen und nahm ihnen das Geld wieder weg.» Da gab es noch strenge Regeln, meint Etter.
Das Unternehmen wurde zu einer Zeit gegründet, als die Ostschweiz in der Textilbranche führend war. Lange nach Etters Zeit bei der Bollag AG, im Jahr 1990, wurde der Betrieb der Firma aufgrund von rückläufiger Nachfrage eingestellt. Doch das Unternehmen blieb bestehen und wandelte sich zu einer Liegenschaftsverwaltung.
Weg vom Thurgau
Die zwei Jahre bei der FATEX AG ermöglichten Etter wichtige Erfahrungen im Rechnungswesen, die ihm später sehr von Nutzen waren. Anschliessend zog er mit seiner Frau nach Neuenburg, um Französisch zu lernen. Die Heimat hat er nie vermisst. «Wir wussten, dass wir nicht mehr nach Frauenfeld zurückwollten», sagt er bestimmt. «Meine Frau ist katholisch und ich bin reformiert, das hätte zu Problemen führen können, denn ‹Mischehen› waren damals noch selten.» Sie hätten «über den Miststock geheiratet», erzählt Etter. Die Stadt Frauenfeld war damals in drei Teile geteilt: die Stadt, das Kurzdorf und das Langdorf. Das Langdorf galt als mehrheitlich katholisch. Das Kurzdorf war hingegen hauptsächlich reformiert geprägt. «Ich war aus dem Kurzdorf und meine Frau aus dem Langdorf, trotzdem lernten wir uns kennen.»
Seine Lebensfreude verlor Etter nie oder wie er selbst sagt: «Man muss sich das Leben ein bisschen schöner machen.» Foto: Robert Etter.
Seit 54 Jahren wohnt das Paar nun schon im Einfamilienhaus in Bern. Der Computer zog Etter an die Aare. «Ich habe gewusst, es gab eine neue Art Maschinen bei IBM. Ab Mai 1964 durfte ich die neuste Generation von Computern bei den Elektrizitätswerken Bern betreuen. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch Beamter werde», erzählt Etter lachend. Nach seiner Zeit bei der FATEX AG blieb Robert Etter bei den Computern und auch in der Hauptstadt. Bern wurde zu seiner Heimat, wo er bis zu seiner Frühpension auch arbeitete. «In Bern fühlte ich mich immer wohl», betont Etter, während er zufrieden aus seinem Fenster über die Stadt blickt.
Immer mit einem Lachen auf dem Gesicht: Robert Etter zuhause in seiner Sitzecke. Foto: Mia Mader und Dominic Iseli.
Mia Mader und Dominic Iseli
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024
Quellenverzeichnis
- Wikipedia: Walter Bollag, aufgerufen am 17. Juni 2024.