Das Rezept im Konkurrenzkampf: «Offen sein für Neues»
Richard Nägeli leitete die Tuchschmid AG fast drei Jahrzehnte lang. In dieser Zeit lernte er die Bedeutung von Flexibilität in der Metallindustrie kennen. Aber auch die Folgen der relativ tiefen Gewinnmargen in dieser Branche bekam der 75-Jährige schmerzlich zu spüren.
«Me häts oder me häts nöd.» So antwortete Richard Nägeli auf die Frage, was es brauche, um Geschäftsführer zu werden. Das klingt zunächst einmal wie eine überhebliche Antwort. Doch er erläutert: «Gewisse Dinge kann man zwar lernen, aber dieses unternehmerische Gefühl muss einfach vorhanden sein – sonst wird es schwierig.» Im Laufe des Gesprächs wird klar: Eine Firma zu führen bedeutet mehr, als nur den Überblick zu behalten. Und es macht tatsächlich den Eindruck, als habe er es – dieses unternehmerische Gespür.
Richard Nägeli in seinem jetzigen Büro in der Langfeld AG. Foto: Fanny Keller und Tiago Gysel.
28 Jahre war Nägeli Geschäftsführer der Tuchschmid AG in Frauenfeld, von 1984 bis 2012. Die Firma wurde 1849 von Jakob Tuchschmid als Schlosserei gegründet und entwickelte sich über die Jahre zu einem ansehnlichen Familienunternehmen in der Stahlbauindustrie. Richard Nägeli sollte der erste Geschäftsführer werden, der nicht zur Familie Tuchschmid gehörte. Diese Herausforderung nahm er von Beginn an sehr ernst.
1983 trat der 34-jährige Bauingenieur die Stelle als Assistent des damaligen Inhabers Walter Tuchschmid an. «So lernte ich die Firma kennen», erzählt Nägeli. Zwar sei er von Anfang an als zukünftiger Geschäftsführer eingestellt worden, doch das wurde nicht gleich offen kommuniziert. Dies ermöglichte ihm, mit den Mitarbeitenden direkter ins Gespräch zu kommen. «So erfährt man natürlich mehr und ungefilterter, als wenn man die Leitung und die Verantwortung hat. Das war ein gutes Fundament, um danach effektiv die Führung zu übernehmen.»
Dies tat er ab 1986 als Vorsitzender der Geschäftsleitung der Tuchschmid AG. Mitten in einer hochpolitischen Zeit, wie Richard Nägeli erzählt: «Es häuften sich die Anzeichen, dass der Eiserne Vorhang bald fallen würde. Das konnte man zwar nicht genau wissen, aber zwischen den Zeilen war es zu erkennen.»
Zeit für eine neue Strategie
Diese Öffnung Europas bereitete Nägeli Sorgen: «In Ostdeutschland gab es Stahlbauer, welche die ganze Welt hätten beliefern können. Das waren Staatsbetriebe mit unglaublich hoher Produktionskapazität.» Kleinere Firmen hätten keine Chance gehabt, im Wettbewerb gegen diese Riesen anzukommen. Die Firma Tuchschmid musste deshalb eine neue strategische Richtung einschlagen. Sie fokussierte sich auf komplexe und qualitativ hochstehende Projekte. Eine Spezialisierung, um der quantitativen Überlegenheit dieser Staatsbetriebe entgegenzuwirken. Bei der Implementierung der neuen Strategie kamen Richard Nägeli seine Unternehmenswerte zugute: «Schon von Beginn an vermittelte ich den Mitarbeitenden, dass Flexibilität der oberste Wert sein muss. Wir wollen offen sein für Neues.»
Mit strengem Blick und Nachdruck erzählt der ehemalige Geschäftsführer vom Kulturwandel in der Firma. Foto: Fanny Keller und Tiago Gysel.
Flexibilität durch Kunst
Um seine Belegschaft für die neue Strategie zu gewinnen, wählte er auch unkonventionelle Wege. So lud er den Künstler Benno Schulthess zu einem gemeinsamen Projekt ein. Die Mitarbeitenden erhielten die Möglichkeit, mit Abfallprodukten aus der Produktion Kunstwerke zu kreieren. «Mehrere Arbeiter kamen zu mir und meinten, sie seien Schlosser, aber doch keine Künstler!», erzählt Nägeli. Und trotzdem nahm die Hälfte der Belegschaft an der Aktion teil. An einem grossen Betriebsfest durften sie ihre Kunstwerke ausstellen und platzten fast vor Stolz. «So wurde vielen klar, dass sie eben doch zu mehr fähig sind, als sie geglaubt haben.»
Das Postautodeck in Chur war der erste grosse, anspruchsvolle Auftrag, seit die Tuchschmid AG ihre Strategie neu ausgerichtet hatte. Teile dieses Auftrags waren an der Grenze der Machbarkeit. Die Mitarbeitenden seien massiv gefordert gewesen und hätten Richard Nägeli gebeten, nie mehr einen so komplexen Auftrag anzunehmen. «Sie haben nicht gemerkt, dass sie mit diesem Auftrag ihre eigenen Kompetenzen erweiterten.»
«Bei uns galt einfach: je exotischer, desto besser. Geht nicht, gab es nicht.»
Es folgten immer mehr herausfordernde Aufträge. Dazu gehörten der Baldachin über dem Berner Bahnhofplatz, die 40-Meter-Skulptur auf der Kathedrale in Belfast oder der Monolith im Murtensee an der Expo 02: alles Glas- und Metallbauten mit internationalem Renommee. «Bei uns galt einfach: je exotischer, desto besser. Geht nicht, gab es nicht.»
In den Hallen der Langfeld AG erinnert ein Foto an den von der Tuchschmid AG konstruierten Monolith, der an der Expo.02 eine Attraktion war. Foto: Fanny Keller und Tiago Gysel.
Das Ende der Tuchschmid AG
Trotz aller Bemühungen musste die Tuchschmid AG 2019 unerwartet schnell Konkurs anmelden. Grund dafür sei die fehlende Liquidität aufgrund defizitärer Aufträge aus Vorjahren gewesen, wie die Thurgauer Zeitung berichtete. 100 Mitarbeitende mussten entlassen werden. Nägeli erlebte den Untergang der Firma als Verwaltungsratspräsident an vorderster Front mit. Mit welchen Gefühlen denkt er daran zurück? «Ich blicke auf die Geschichte unserer Firma und sehe, was wir dank unserer klaren Strategie alles geschafft haben! Das Gefühl, dass da noch mehr drin gelegen wäre, tut mir weh.»
Die ehemalige Produktionshalle der Tuchschmid AG in Frauenfeld. Foto: Fanny Keller und Tiago Gysel.
Die meisten Mitarbeitenden konnten bis kurz vor Ausbruch der Pandemie andernorts eine Stelle finden. Nägeli ist froh, dass immer noch eine grosse Verbundenheit zwischen den ehemaligen Mitarbeitenden besteht. Erst kürzlich hätten sie einen Grillabend mit rund 60 Personen veranstaltet und nun stehe sogar die Gründung eines Vereins «Tuchschmid-Familie» im Raum.
Der Zukunft blickt Richard Nägeli zuversichtlich entgegen. Foto: Fanny Keller und Tiago Gysel.
Was Nägelis Zukunft betrifft, so wird ihm nicht langweilig. Aktuell treibt er gerade sein Buchprojekt voran, in dem er die Firmengeschichte der Tuchschmid AG um die Kapitel seiner Epoche ergänzt. Nebenbei arbeitet er mit dem Staatsarchiv zusammen, um die Geschichte der Firma zu erforschen und zu dokumentieren. Beim Wort Pension winkt er ab. Auch wenn man im Alter nicht mehr ganz so schnell sei, habe er noch einige Projekte vor sich.
Fanny Keller und Tiago Gysel
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024
Quellenverzeichnis
- Stefan Borkert: Nach 170 Jahren ist Schluss: Die Thurgauer Traditionsfirma Tuchschmid AG geht Konkurs – Frauenfeld verliert 100 Arbeitsplätze. In: Thurgauer Zeitung, 13. Dezember 2019.
- Erich Trösch: Tuchschmid. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 29. November 2012.
- Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg: Infoportal Östliches Europa.
- Kanton Thurgau: Vom Fenster zum Glashimmel. 170 Jahre Pionierarbeit der Frauenfelder Stahlbaufirma Tuchschmid. 31. März 2022.