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Ein Schmelztiegel in Bischofszell


20 Jahre sorgte sich Odette Bösch bei der Bischofszell Nahrungsmittel AG ums Personal. Obwohl sie seit 2002 pensioniert ist, ist sie dem Unternehmen emotional noch immer verbunden. Die 80-Jährige erzählt von sommerlichem Erntestress und dem Sprachgemisch auf dem Fabrikareal.

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Von 1982 bis 2002 arbeitete Odette Bösch in der Personalabteilung der Bischofszell Nahrungsmittel AG (Bina). Foto: Daniel Glättli.

«Im Herbst war der Verkehr bei uns grauenhaft», erinnert sich Odette Bösch. Damit meint sie das Gelände der Bischofszell Nahrungsmittel AG, kurz Bina. Sie wischt mit ihrer Hand durch die Luft, als wolle sie den besagten Verkehr so gleich wieder wegschicken. «Das war ein Chaos. Die einen beladen mit Äpfeln, die anderen mit Birnen und alle fuhren durcheinander.» Im Herbst wird das Obst geerntet – und Bösch hat viele Herbste miterlebt: 20 Jahre war sie für die Bina im Einsatz bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2002. Der Produktionsbetrieb ist von nationaler Bedeutung, worauf man im Thurgau stolz ist.

Die Nahrungsmittelproduzentin im gleichnamigen Bischofszell verarbeitet schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts diverse Lebensmittel und stellt Konserven her. Erst Dörrfrüchte, dann Erbsenkonserven und Apfelkonzentrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte die Migros das Unternehmen, zu deren Gruppe es heute noch gehört. Im Laufe der Zeit begann die Bina Spinat und Pommes Chips zu produzieren. Das wohl bekannteste Produkt aus Bischofszell dürfte bis heute aber der Migros-Kult-Eistee sein.

Der Status

In ihrer Wohnung etwas ausserhalb des Dorfkerns von Amriswil schildert die heute 80-jährige Odette Bösch ihre Zeit bei der Bina. Auf flinken Beinen und mit hochgezogenen Mundwinkeln serviert sie dazu Kaffee. Ihre weiche Stimme klingt hie und da etwas nostalgisch. «Man hatte schon einen gewissen Status, wenn man bei der Bina arbeitete. Unsere Versicherungen und auch die Löhne waren gut. Deshalb fanden wir auch immer genug Leute.»

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Die Inschrift auf der Unterseite der Pferdestatue, die Odette Bösch für einen Kaderkurs bei der Bina erhielt. Foto: Daniel Glättli.

Bösch kümmerte sich um die Personalabteilung. Oder eher ums Personal, also um die ungefähr 400 bis 500 Mitarbeitenden, die in den 1980ern und 90ern die Bina betrieben. Auch ihr Mann arbeitete im Betrieb. Er fuhr die Erntemaschinen auf den Bina-eigenen Feldern. «Im Winter hatten die Erntemaschinenfahrer ein schönes Leben», erzählt Bösch, «da haben die ein wenig aufgeräumt und die Maschinen gewartet. Aber die Sommer waren streng.»

Die Ernte

Sommer ist Erntezeit und Hochsaison für die Nahrungsmittelverarbeitung. In dieser Jahreszeit verdoppelte sich die Belegschaft auf über 1000 Mitarbeitende. «Anfang Sommer mussten die 500 bis 600 Erntehelferinnen und -helfer angemeldet werden und alle brauchten einen Ausweis. Das war auch für uns viel Arbeit», erinnert sich Bösch. Die Gastarbeiterinnen und -arbeiter kamen aus Portugal, Spanien und Italien. Somit ergab sich auf dem Bina-Gelände ein buntes Sommergewimmel aus Sprachen, das sich nach und nach vereinheitlichte und schliesslich zu einer eigenen Fabriksprache vermischte.

«Im Personalbüro hatten wir zweimal in der Woche Sprechstunde für die Angestellten. Kamen sie mit einem Anliegen zu uns ins Büro, plauderten sie in der Fabriksprache drauflos und am Anfang verstand ich nichts», erklärt Bösch. Später hat sie diese Sprache aber erlernt.

«Kamen sie allein, haben wir sie einquartiert. Aber wenn sie mit der Familie kamen, mussten sie selbst eine Wohnung suchen.»

«Für ihre Freizeit haben sie sich in Gruppen organisiert: Es gab einen Spanier-, einen Portugiesen- und einen Italiener-Club. Und dann haben die oft alle zum Essen eingeladen. Ja, das war schön.» Viele von diesen Frauen und Männern aus dem Süden arbeiteten jeden Sommer an den Laufbändern und Maschinen der Bina. Einige bekamen nach vielen Jahren die Erlaubnis zu bleiben und konnten so Kinder und Familie mit in die Schweiz nehmen. «Kamen sie allein, haben wir sie einquartiert. Aber wenn sie mit der Familie kamen, mussten sie selbst eine Wohnung suchen.»

Der Computer

«Kurz nachdem ich im April 1982 bei der Bina angefangen hatte, bekamen wir ein neues Abrechnungs- und Lohnsystem», erzählt Odette Bösch. Das war der Anfang der Digitalisierung in dem Traditionsunternehmen. «Wir bekamen dann Computer und stellten vieles auf EDV um. All die Daten zu erfassen, das war ein Krampf und eine riesige Umstellung für alle. Da haben wir am Anfang oft die Nacht durchgearbeitet, weil ein kleiner Fehler bei den Löhnen passiert ist und alles nochmal von vorne gemacht werden musste.»

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In der Personalabteilung der Bina kontrollierte Odette Bösch unter anderem die Arbeitszeiten aller Arbeitnehmenden. Foto: Daniel Glättli.

Trotzdem waren die Computer effizienter als das alte System. Habe doch der vorherige Lohnbuchhalter alles noch von Hand geschrieben und das Lohngeld in Säckli gepackt und verteilt – für rund 500 Angestellte. «Alles in Handarbeit», unterstreicht Bösch.

Für die Saläre war aber auch nach dieser Umstellung noch ein extra Lohnbuchhalter zuständig. Bösch kümmerte sich um die Versicherungen, die Arbeitszeit- und die Krankenkontrolle. «Ich schaute dann, wie es den Kranken zuhause ging, und brachte ihnen manchmal Blumen.»

Die Entwicklung

Im Produktionsprozess habe es ständig Änderungen gegeben. Nur habe das die Personalabteilung kaum mitgekriegt: «Es hat immer mal wieder neue Maschinen und Anlagen gegeben. Dann haben wir vom Büro manchmal eine Rundfahrt durch den Betrieb gemacht, um uns die Neuerungen anzuschauen.»

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Obwohl Odette Bösch heute in Amriswil wohnt, ist die Verbindung nach Bischofszell bis heute allgegenwärtig. Foto: Daniel Glättli.

Auch heute verabreden sich die früheren Arbeitskolleginnen und -kollegen immer noch oft und regelmässig. Zusammen besuchten sie auch schon die einst so vertraute Fabrik. Diese sei aber kaum wiederzuerkennen: «Alleine hätte ich mich auf dem Gelände überhaupt nicht mehr zurechtgefunden.» Genau wie die Bauten bietet ihr auch der neue Name des Unternehmens wenig Orientierung. «Fresh Food and Beverage», schmunzelt sie, «die meisten von uns können das gar nicht aussprechen.»

Daniel Glättli und Dario Jeker
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024

Quellenverzeichnis