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«Ich habe einen Schlussstrich gezogen – ohne Sentimentalität»


Kurt Brunnschweiler wuchs in einer Industriellenfamilie auf. Nach dem frühen Tod seines Vaters hätte der Vollwaise Geschäftsführer der Färberei Rotfarb werden können. Er verliess sich aber auf den Rat seines Vaters und kehrte dem Familienbetrieb den Rücken.

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Der «scheue und gehorsame Bub mit roten Haaren und Hornbrille» 30 Jahre später in seinem Büro. Foto: Jeremy Soland.

Als der junge Kurt in den 1970er-Jahren als «scheuer und gehorsamer Bub mit roten Haaren und Hornbrille» in Hauptwil aufwuchs, war sein Familienname in der oberthurgauischen Gemeinde omnipräsent. Gemeinsam mit weiteren Familien führten die Brunnschweilers mehrere Textilbetriebe im Dorf. «Unserer Familie gehörte damals ein Viertel Hauptwils», erzählt er.

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Im Jahr 1845 erwarb die Familie Brunnschweiler das Wasserrecht für den Weiher, was als Ausgangspunkt für die Frühindustrialisierung gilt. Foto: Jeremy Soland.

«Wir wohnten aber in einer der bescheideneren Villen mit nur 13 Zimmern.» Wie sich dies in einer evangelisch geprägten Familie damals gehört habe, lebten die Brunnschweilers für ihre finanziellen Verhältnisse schlicht. Fleisch gab es zweimal pro Woche. Das Highlight war Kakao, Gipfeli und Weggli mit Marmelade. «Die Arbeiterkinder hatten zum Teil schon einen TV zu Hause, was bei uns erst Ende der Siebzigerjahre der Fall war», vergleicht er.

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Das «Haus zur Rose», eine der Fabrikantenvillen im Zentrum von Hauptwil. Foto: Jeremy Soland.

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Auch das Gebäude gegenüber dem «Haus zur Rose» ist ein Zeuge der Textilindustrie Hauptwils. Foto: Jeremy Soland.

Hilfskraft im Familienbetrieb

Bereits als Sekundarschüler arbeitete Kurt Brunnschweiler in der Färberei Rotfarb, die zur Hälfte seinem Grossvater gehörte. Er übernahm Aufgaben wie das Umspulen von Garn oder das Wechseln von Filterpapieren, wozu das Aufschneiden der noch vorhandenen Restfäden gehörte. «Da hast du in der Stunde einen Franken verdient und am Abend hattest du offene Hände.» Trotzdem habe ihm die Arbeit immer gefallen: «Ich bekam eine Stempelkarte und war sehr stolz beim Einstempeln.» Auch nach der Sek half er im Familienbetrieb mit. Der Motorenfan verdiente «gutes Geld» für einen Kantischüler, indem er sich um den Fuhrpark des Unternehmens kümmerte oder beim Farbmischen mithalf.

Im Jahr 1972 ereignete sich ein Schicksalsschlag im Leben von Kurt Brunnschweiler, den er heute als «Zäsur» beschreibt. Sein Vater lag nach einem Autounfall rund ein Jahr im Koma und verstarb. Bis heute bleiben die Umstände des Unfalls ungeklärt. Der Vater sei im Herzen ein Techniker gewesen, musste aber in der Färberei die kaufmännische Führung übernehmen, worunter er stark gelitten habe, berichtet Kurt Brunnschweiler. Er behält ihn als «charismatischen Patron» in bester Erinnerung. Da seine Mutter bereits kurz nach seiner Geburt gestorben war, wurde der damals 15-jährige Brunnschweiler mit dem Unfall seines Vaters zum Vollwaisen.

«Mein Vater hatte sich nur einen kleinen Lohn ausgezahlt.»

Zur Trauer kamen schnell auch Ängste dazu: «Mein Vater hatte sich nur einen kleinen Lohn ausgezahlt», so Brunnschweiler. «Damals hatte ich panische Ängste, dass wir unsere 13-Zimmer-Hütte nicht mehr heizen können.» Verstärkt wurde dies durch die Ölkrise, unter der auch die Textilindustrie stark litt.

«Komm nie in die Färberei»

Nach dem Tod des Vaters machte ihm sein Grossvater das Angebot, Geschäftsführer der Färberei zu werden und seine Anteile auf ihn zu überschreiben. Doch er erinnerte sich an den Rat seines Vaters: «Du kannst alles machen, komm einfach nie in die Färberei», habe er gesagt. Dies befolgte er, worauf der Grossvater die Anteile an Brunnschweilers Onkel zweiten Grades vermachte. Im Jahr 1984 musste die Rotfarb aufgrund von strengeren Gesetzen im Umweltschutz und Preisdruck aus dem Ausland schliessen. Kurt Brunnschweiler erhielt nach eigenen Angaben aus dem ganzen Imperium 10'000 Franken.

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Die ehemalige Färberei Rotfarb, die von Teilen der Familie Brunnschweiler bis ins Jahr 1984 betrieben wurde. Foto: Jeremy Soland.

Die Familie wollte den Vollwaisen für die Zeit der Kantonsschule bei einem Cousin des Vaters in Frauenfeld unterbringen. Da er in der Region, insbesondere in der lokalen Pfadi, gut verankert war, kam das für ihn aber nicht infrage. Also nahm er sein Leben selbst in Hand. Er meldete sich beim Waisenamt und sagte dem Sekretär: «Wenn ich hier bleiben darf, dann werden Sie nie Probleme mit mir haben. Andernfalls gibt es hin und wieder Akteneinträge wegen Strolchereien.»

Mit der Matura im Sack musste sich Kurt Brunnschweiler entscheiden, welchen Weg er einschlägt: «Ich wusste nie, was machen. In meinem Leben regiert der Zufall», so Brunnschweiler. So schrieb er sich an der Hochschule St. Gallen ein. Parallel dazu half er einer Tante, die eine Weberei in Solothurn betrieb, und unterrichtete Arztgehilfinnen und -gehilfen. «Wirtschaftlich ging es mir damals gut», erzählt Brunnschweiler über die Studienzeit. Mit dem «Thurgauerverein» der HSG ging er regelmässig jassen und segeln.

Die industriellen Spuren verblassen

Während des Studiums absolvierte er ein Praktikum beim St. Galler Bankverein. «Das war das einzige Vorstellungsgespräch meiner Berufskarriere.» Die einzige Frage im gesamten Gespräch habe sich auf ein in der Region beliebtes Fasnachtslokal bezogen. Nach einem halben Jahr wurde er Berater für institutionelle Anleger und verbrachte in der Folge über 37 Jahre in diversen Führungspositionen beim Bankverein und der Nachfolgebank UBS. Parallel dazu wurde er in Hauptwil zum jüngsten Gemeindeammann der Ostschweiz, war in etlichen Verwaltungsräten, präsidierte Vereine und Komitees. Darunter das Waisenamt, das er nur zehn Jahre vor seinem Antritt als Präsident selbst noch aufgesucht hatte.

«Ich habe da einen Schlussstrich gezogen – ohne Sentimentalität.»

Heute hat Kurt Brunnschweiler drei Kinder und wohnt mit der Familie in Hauptwil. Die Rotfarb ist mittlerweile ein Gewerbezentrum und an der Villa, in der er aufgewachsen ist, hängt eine Plakette, die auf die Historie des Gebäudes hinweist. Manchmal frage ihn einer seiner Söhne, ob es ihm nicht weh tue, die Familiengeschichte zurückzulassen und zu sehen, wie sich die industriellen Spuren in Hauptwil allmählich verwischen. Darauf antworte er jeweils: «Ich habe da einen Schlussstrich gezogen – ohne Sentimentalität.»

Severin Hartmann und Jeremy Soland
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024

Quellenverzeichnis

  • Abschied von Eduard Brunnschweiler-Maire, Hauptwil. In: «Bischofszeller Nachrichten», 17. November 1973, Seite 11.