«Ohne Ausbildung wäre mein beruflicher Weg heute nicht mehr möglich»
Von der Fliessbandarbeiterin zur Laborassistentin: Erica Dolfi hat während 25 Jahren in der Konservenfabrik Bischofszell Nahrungsmittel AG gearbeitet, ohne je eine Lehre absolviert zu haben. Als Frau in der Zeit der Deindustrialisierung war das nicht immer leicht.
Erica Dolfi hat als Laborassistentin bei der Bischofszell Nahrungsmittel AG gearbeitet und die ersten Schritte der Digitalisierung miterlebt. Foto: Melissa Greiter, Lea Schenk und Jasmin Wicki.
Es ist ein lauer Morgen im Jahr 1985. Um 6 Uhr in der Früh, während andere noch schlafen oder das Frühstück vorbereiten, düst Erica Dolfi mit ihrem Töffli zur Arbeit. Die Fahrt zur Bischofszell Nahrungsmittel AG, kurz BINA, dauert nur wenige Minuten. Dolfi arbeitet dort als Laborassistentin.
Nur wenige Frauen waren in diesem Beruf tätig. Nach der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz im Jahr 1971 stieg die Zahl der Frauen in der Arbeitswelt weiter an. In den 1970er-Jahren arbeitete noch die Hälfte der erwerbstätigen Thurgauer Bevölkerung in der Industrie, wobei Frauen meist Berufe ausübten, für die sie keine Ausbildung brauchten. Erica Dolfi lernte das Arbeiten als Tochter eines Bäckers und einer Schneiderin schon früh kennen. «Berufswahl oder Ausbildung war für uns Töchter zu Hause aber nie ein Thema», überlegt Dolfi. Die Zukunft war wie für viele Frauen dieser Zeit vorbestimmt: Nach der Schulzeit folgte die Konfirmation und danach die Hilfsarbeit in einem fremden Haushalt.
Erica Dolfi hatte es nicht immer leicht und blickt nachdenklich, aber glücklich auf ihr Leben zurück. Foto: Melissa Greiter, Lea Schenk und Jasmin Wicki.
Ein schweres Los für Frauen ohne Ausbildung
«Die Tage als Haushaltshilfe waren lang und die Arbeit zum Teil undankbar», berichtet Dolfi. Doch sie liess sich nicht alles gefallen, war stets rebellisch und provozierte gerne, weshalb sie über die Jahre immer wieder ihre Anstellung wechselte. Neben ihrer Berufstätigkeit war sie zudem Mutter von zwei Kindern. In den 1980er-Jahren wohnte sie mit ihrem Sohn und ihrer Tochter in Bischofszell. Dort fand sie schliesslich Arbeit in der BINA, in der Region auch «Konservi» genannt.
Die «Konservi» wurde 1909 gegründet mit dem Ziel, Dörrfrüchte und andere Trockenprodukte herzustellen. 1945 wurde sie von der Migros übernommen, durch deren finanzielle Mittel sie viele Innovationen wie die ersten Tiefkühlprodukte oder Kartoffelchips auf den Markt bringen konnte. Die BINA – seit 2023 Teil der Fresh Food & Beverage Group der Migros Industrie – hat die Entwicklung der Gemeinde entscheidend mitgeprägt und war eine beliebte Arbeitgeberin. Noch heute werden in Bischofszell jährlich tonnenweise Kartoffeln zu Chips, Pommes oder Rösti verarbeitet. Damit hat auch Erica Dolfi ihre Arbeit in der «Konservi» begonnen.
«Was ich nicht wusste, musste man mir halt erklären.»
Tag für Tag sind vor ihr auf dem Fliessband Kartoffeln und manchmal auch Karotten vorbeigerollt, die Dolfi schälen musste. Rechts und links von ihr sassen ausschliesslich Frauen aus Italien, Spanien oder Portugal. Alle ungelernt. Sie mochten die einfache Arbeit, doch für Dolfi war sie vor allem eines: langweilig. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie, Lieder von Reinhard May zu singen. Dass sie unterfordert war, blieb nicht unbemerkt. Trotz ihrer fehlenden Ausbildung wurde Dolfi von ihrem Vorgesetzten in andere Abteilungen versetzt, bis sie schliesslich im Labor landete.
Laborarbeit und Lohnungleichheit
Im Labor wurde mit Chemikalien und ohne grosse Schutzmassnahmen, wie sie heute gelten, gearbeitet. Davon liess sich Erica Dolfi nicht einschüchtern. Sie gab sich Mühe, die Arbeit korrekt zu erledigen: «Was ich nicht wusste, musste man mir halt erklären.» So hat sie einen Kollegen kennengelernt, der gerade an einem neuen Produkt tüftelte: Eistee. «Das wird doch keiner kaufen», prophezeite Dolfi. Warum auch?
Sie sollte sich täuschen: Eistee kam Anfang der 1990er-Jahre als neues Sommergetränk in Mode. Daraufhin stellte die «Konservi» Eistee für die Migros her, die im Jahr 1994 rund 80 Millionen Liter davon verkaufte. Doch nicht nur der Inhalt erfuhr einen Boom. Mit der Lancierung des combiTop-Verschlusses 1993 gelang der BINA ein weiterer Durchbruch. Der Verschluss, der sich beliebig oft öffnen und schliessen lässt, fand so grossen Anklang, dass viermal mehr Eistee und Fruchtsäfte verkauft wurden als erwartet.
Im Labor arbeitete Erica Dolfi mit verschiedenen Säuren und Chemikalien, ohne dafür je eine Ausbildung absolviert zu haben. Foto: Erica Dolfi.
Im Labor gab es immer einen zentralen Unterschied zwischen Erica Dolfi und ihren Kollegen: den Lohn. Als ungelernte Laborassistentin verdiente sie nicht viel. Mit ungefähr 1'600 Franken im Monat musste sie auskommen; heute wären das circa 2'500 Franken. «Da hat es auch nichts genützt, wenn du die gleiche Arbeit wie ein Laborant gemacht hast. Manchmal dachte ich mir auch: Das mache ich sogar besser», erinnert sich Dolfi. Sie forderte bei ihrem Chef deshalb immer wieder eine Lohnerhöhung. «Sie ohne Ausbildung wollen jetzt noch mehr Lohn?», hiess es dann abfällig. Dolfi liess sich jedoch nicht entmutigen, fragte immer wieder nach, blieb hartnäckig und hatte teilweise auch Erfolg.
Skeptisch ins digitale Zeitalter
Die 1980er-Jahre waren geprägt von grossen technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Deindustrialisierung und Digitalisierung nahmen langsam, aber sicher Fahrt auf. Auch die «Konservi» blieb davon nicht verschont. Plötzlich hiess es: Jetzt wird mit Computern gearbeitet. Erica Dolfi war anfangs noch skeptisch. «Das könnt ihr vergessen, ich mache das nicht», hat sie gemeint und weiterhin ihre Akten akribisch von Hand geführt. Zwei Jahre lang behielt sie ihre Karteikarten neben den digitalen Notizen, bis sie schliesslich auch ganz umstieg.
Trotz Computer notierte Erica Dolfi vieles noch gerne von Hand. Foto: Erica Dolfi.
«Ich war ein bisschen eine Sonderbare», verrät Erica Dolfi schmunzelnd. Sie arbeitete 25 Jahre bei der BINA, lebt noch immer in Bischofszell, führt aber inzwischen ein ruhigeres Leben. Sie erinnert sich gerne an die Zeit in der «Konservi» und ihr ist klar: «Ohne Ausbildung wäre mein beruflicher Weg heute nicht mehr möglich.» Mit Konserven von der BINA kocht sie gelegentlich noch. Nur Eistee, den trinkt sie bis heute nicht.
Für 25 Jahre treuen Einsatz erhielt Erica Dolfi bei ihrer Pensionierung ein Zertifikat, das sie heute noch besitzt. Foto: Melissa Greiter, Lea Schenk und Jasmin Wicki.
Jasmin Wicki, Lea Schenk und Melissa Greiter
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024
Quellenverzeichnis
- Julia Frick: Frauenerwerbsarbeit. In: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), 31. Dezember 2011.
- Kurt Bahnmüller: Produkte-Innovationen und Diversifikationen als Konjunkturpuffer. In: Handelszeitung, 14. April 1994.
- Migros Industrie: Fresh Food & Beverage Group, aufgerufen am 10. Mai 2024.
- Thomas Vaterlaus: Eistee-Siegeszug: Am Anfang stand die Faulheit. In: SonntagsZeitung, 11. August 1996.
- Urs Bänziger: Mit der Dose gewachsen. In: St. Galler Tagblatt, 28. Februar 2009.
- Währungsumrechnung, aufgerufen am 10. Mai 2024.