«Ich blieb bis zum letzten Tag»
Doris Nater arbeitete 30 Jahre bei der Zetag AG im Sorntal. Dort erlebte sie bewegende Jahre der Textilgeschichte, aber auch das Ende einer Ära. Die heute pensionierte Hauptwilerin blickt zurück und erzählt, was von der Zetag übrigblieb.
Trotz dem unerwarteten Ende hat Doris Nater die Schliessung der Fabrik mit Fassung getragen. Foto: Andreas Giger.
«Das hier war die Weberei und das war die Färberei», erklärt Doris Nater, während sie die vergilbten Bilder auf einem alten Flyer anschaut. Sie sitzt am Esstisch, vor ihr liegen ein Stapel mit Fotos und ein Flyer. Sie lacht: «Und das bin sogar noch ich!» Die junge Frau auf dem Foto trägt einen blauen Jupe und hat braunes, lockiges Haar. Wie alt der Flyer ist, das weiss die heute 71-Jährige nicht mehr. Aber er weckt Erinnerungen. Fast 50 Jahre ist es her, seit sie ihre Stelle bei der Zetag AG angetreten hat.
Dass Doris Nater selbst auf dem Flyer zu sehen ist, hat sogar sie überrascht. Foto: Zetag AG.
«Ich war Mädchen für alles»
Das Firmenlogo der Zetag AG ist am grossen Betriebsgebäude noch zu erkennen. Ansonsten erinnert nur noch das lokale Textilmuseum daran, dass das Sorntal einst eine Hochburg der Textilindustrie war. Gegründet wurde das ehemalige Textilwerk vor gut 60 Jahren. Doris Nater trat ihre Stelle acht Jahre später an. Im 50-Prozent-Pensum arbeitete sie in der Packerei und Zuschneiderei. Sie schnitt Stoffe zu, kontrollierte und verpackte sie. Kurzum: Sie packte dort an, wo es etwas zu tun gab. Sie schmunzelt: «Ich war Mädchen für alles.»
Erinnerungen an alte Zeiten: Die junge Frau im Blumenkleid ist Doris Nater. Foto: Jacqueline Wechsler.
Dabei hatte Nater ursprünglich Verkäuferin gelernt. Sie erklärt: «Ich hatte damals eine zweijährige Tochter und war auf der Suche nach einem Teilzeitjob.» Ein Arbeitgeber, der ihr ein tiefes Pensum ermöglichte und Verständnis entgegenbrachte, wenn sie als Mutter einer Asthmatikerin ab und an auch fehlen würde, das sei zu dieser Zeit nicht selbstverständlich gewesen. Die Zetag AG sei die einzige Firma gewesen, die sie unter diesen Bedingungen genommen habe, so Nater. An die Arbeit selbst hat sich die damals Mitte Zwanzigjährige schnell gewöhnt: «Meine Arbeit war nicht wahnsinnig kompliziert, es war Learning by doing.»
Gründung erst nach Ostschweizer Textilzeitalter
Die Textilgeschichte im Sorntal geht bis auf das Jahr 1823 zurück. Mit der Wasserkraft des Sornbaches betrieb man erst eine Spinnerei, später eine Feinweberei. Anfangs stand ein Fabrikgebäude im Sorntal, doch über die Jahre entwickelte sich der Ort zu einem regelrechten Industriepark: Ein Anbau für die Arbeiter, ein Waschhaus, eine Parkanlage und auch ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Stall und Scheune kamen dazu. Nach einigen Übernahmen gelangte das Gebäude schliesslich an die Zetag AG. Diese setzte mit ihrer späten Gründung im Jahr 1969 die textile Tradition entgegen dem Trend fort. Denn Ende der 1960er-Jahre war der Textilboom in der Ostschweiz eigentlich bereits Geschichte. Der Export von Stoff und Spitze war um 1920 zusammengebrochen, die Region hatte durch Abwanderung viele Einwohnende verloren. Die Zetag AG gliederte sich später in den deutschen Mutterkonzern Zweigart ein, den es heute noch gibt.
«Ich hatte immer Stress. Ich musste am Mittag direkt nach Hause und kochen.»
Als Nater 1977 ihre Stelle in der Spinnerei antrat, florierte das Geschäft. Zu Spitzenzeiten waren bei der Zetag AG 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angestellt. «Wir waren ein eingespieltes Team und ich gehörte zu den Jüngsten», so Nater. Sie habe sich wohlgefühlt, gibt aber lachend zu: «Ich hatte immer Stress. Ich musste am Mittag direkt nach Hause und kochen.» Immerhin: Die Familie Nater wohnte einen Kilometer von der Zetag AG entfernt: «Mit dem Velo war ich schnell.»
«Das Ende war ein seltsames Gefühl»
Nach und nach wurde auch im Sorntal die Globalisierung spürbarer. China konnte die Waren billiger produzieren. Gleichzeitig nahm auch das Bedürfnis nach hochwertigem Schweizer Stoff ab. «Wir merkten mit der Zeit, dass weniger Aufträge hereinkommen», erinnert sich Nater. Die Kundinnen und Kunden wurden anspruchsvoller, die Qualitätskontrollen strenger: «Ganze Paletten wurden wegen minimalen Fehlern entsorgt.»
«Das Ende war ein seltsames Gefühl.»
In den letzten Jahren habe die Zetag AG noch versucht, plastifizierte Stoffe wie Tischsets zu produzieren. Nater zuckt mit den Schultern, als sie sagt: «Das ging aber in die Hose.» Die Produktionskosten seien zu teuer und die Konkurrenz aus dem Osten schlichtweg billiger gewesen. Die Schliessung der Firma habe sich dementsprechend abgezeichnet. Trotzdem sei die endgültige Schliessung dann doch «happig» gewesen. Nater und ihre Kolleginnen und Kollegen erfuhren erst ein halbes Jahr davor von ihrem Schicksal. Nater erzählt: «Ich blieb bis zum letzten Tag», und meint weiter: «Das Ende war ein seltsames Gefühl.» Speziell sei vor allem gewesen, nach 30 Jahren mit dem Gewohnten aufzuhören. Das war im Jahr 2007. Sie denkt kurz nach, bevor sie sagt: «Seltsam, aber nicht sonderlich schlimm. Vielleicht kann ich mich aber auch einfach nicht mehr an das Gefühl erinnern. Es ist jetzt doch ein paar Jahre her»
Heute hat Doris Nater Zeit für andere Dinge – zum Beispiel für ihre vier Enkelkinder. Foto: Jacqueline Wechsler.
In den ehemaligen Hallen der Zetag AG werden heute Fensterläden und andere Produkte aus Blech hergestellt. 17 Jahre sind seit der Schliessung vergangen. Viele der ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter verstorben oder in ihre Herkunftsländer zurückgewandert. Nur mit einer Kollegin hat Nater noch Kontakt, diese lebt heute im Altersheim. Nater selbst wohnt gemeinsam mit ihrem Mann noch immer im selben Haus in Hauptwil und geniesst ihre Pension. Sie ist gerne in der Welt unterwegs oder verbringt Zeit mit ihren Enkelkindern. Und in den kalten Monaten, wenn der Hauptwiler Weiher nicht zugefroren ist, geht sie fast täglich eisbaden. Sie lächelt: «Am liebsten, wenn es dunkel ist. Dann muss ich kein Badekleid mitnehmen.»
Jacqueline Wechsler und Andreas Giger
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024
Quellenverzeichnis
- Textilmuseum Sorntal, Museumswebseite.
- Urs Bänziger: Im Sorntal auf Expansionskurs. In: Galler Tagblatt, 17. Oktober 2009.
- Verena Rothenbühler: Hauptwil. In: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 29. November 2007.
- Peter Schindler: Betriebsreportage ZEATAG AG Textilwerke. In: Mittex, 91 (1984), Nr. 12, S. 488–489.