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«Die Nähmaschinen lassen mich nie ganz los»


Vom nationalen Konkurrenzkampf über den Boom bis zur Digitalisierung: Christian Ulmer erlebt bei der Nähmaschinenherstellerin Bernina alles hautnah mit. Die Steckborner Firma prägt das Leben des pensionierten Konstrukteurs bis heute auf eine ganz besondere Art und Weise.

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Christian Ulmer mit seinen Trouvaillen. Foto: Lea Spinatsch und Luana Tonoli.

Christian Ulmer stöbert auf dem Flohmarkt in Steckborn nach Schätzen aus der Nähmaschinenindustrie und schwelgt in Erinnerungen an frühere Zeiten. Immer wieder zeigt er aufgeregt auf spezielle Objekte. Der 80-Jährige scheint jede einzelne Nähmaschine bis in ihre Einzelteile zu kennen. Plötzlich hält er inne und strahlt. Vor ihm steht die Bernina «Jubilae 125 J», mit der ihn viele Erinnerungen verbinden.

Tief verwurzelt in der Region

Gefühlsmässig ist Christian Ulmer schon seit jeher in Steckborn zu Hause. In seiner Kindheit lebt er zwar einige Jahre in Thundorf, aber: «Ohne den Schienerberg vor der Nase ist mir einfach nicht wohl», gesteht er schmunzelnd. Auch Bernina hat ihre Wurzeln in Steckborn, wo die Firma seit 1893 Nähmaschinen herstellt. Um in seine Heimat zurückzukehren, absolviert Christian Ulmer bei Bernina eine Lehre als Nähmaschinenkonstrukteur. In den folgenden 45 Jahren tüftelt er an verschiedenen «Teilchen» von Haushaltsnähmaschinen und erhält dafür zahlreiche Patente – so viele, dass er sich gar nicht mehr an alle erinnern kann. Eines aber bleibt ihm unvergessen: eine neue Konstruktion für das Nähfüsschen. Ulmer erklärt mit grosser Selbstverständlichkeit: «Heute richtet sich das Füsschen automatisch aus, früher musste es von Hand gerichtet werden.»

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Am Nähfuss hat Christian Ulmer immer wieder getüftelt. Foto: Lea Spinatsch und Luana Tonoli.

Mitten im Wandel

Als Christian Ulmer 1960 seine Ausbildung bei Bernina startet, zählt das Unternehmen rund 600 Mitarbeitende. Knapp 20 Jahre später sind es mehr als doppelt so viele. Der junge Konstrukteur erlebt den Boom in der Nähmaschinenindustrie hautnah mit. «Nach dem Krieg gab es einen riesigen Aufholbedarf», erzählt Ulmer. Dank des Erfolgs treibt Bernina die Weiterentwicklung ihrer Produkte voran. Zwei grössere Innovationen stehen sinnbildlich dafür: Portable Nähmaschinen mit Handgriff kommen auf den Markt und Bernina geht die ersten Schritte auf dem Weg der Digitalisierung. In den 1980er-Jahren bringt Bernina ihre erste vollautomatische Maschine auf den Markt.

«Wir haben immer schnell reagiert, auf hohe Qualität gesetzt und viel getüftelt. Deshalb war Bernina immer vorne mit dabei.»

Diese Automatisierung sieht Ulmer nicht als Problem, sondern als Chance. Bis heute gehe es um eine gute Mischung, denn Nähmaschinen benötigten neben der Elektronik immer auch die Mechanik. Dank dieser kann die Maschine beispielsweise das Fadenmaterial zuführen und Fäden verknüpfen, erzählt Ulmer. Das sechsköpfige Konstruktionsteam um Ulmer hat dabei stets die nationalen Konkurrenten im Blick: «Wir haben immer schnell reagiert, auf hohe Qualität gesetzt und viel getüftelt. Deshalb war Bernina immer vorne mit dabei.» Der Erfolg hält bis heute an. Bernina ist jedoch mittlerweile die einzige Schweizer Nähmaschinenherstellerin und exportiert rund 90 Prozent ihrer Maschinen ins Ausland.

Lernen vom «Senior»

Einen grossen Anteil an diesem Erfolg hat der ehemalige Firmeninhaber und oberste Konstrukteur Fritz Gegauf. Er übernimmt die Firma 1928 und prägt sie mit seinen Erfindungen jahrzehntelang. Eines seiner grössten Vermächtnisse ist die Bernina «Jubilae 125 J». Sie ist 1945 die erste tragbare Nähmaschine, die zickzack nähen kann. Jahrelang arbeitet der noch junge Christian Ulmer mit Gegauf zusammen. «Vom ‹Senior› habe ich viel gelernt. Vor allem die Beharrlichkeit», erzählt er dankbar. Gegauf habe ihn stets dazu angetrieben, «weiterzuzeichnen und zu experimentieren». Ulmer erlebt den «Senior» als engagierten Chef, der sein ganzes Leben der Bernina widmet und selbst im Urlaub täglich Briefe mit Ideen und Skizzen an sein Konstruktionsteam sendet. Später wird Ulmer die Ehre erwiesen, an Gegaufs Schreibtisch zu arbeiten. Noch heute ist der 80-Jährige stolz darauf – und lächelt beim Gedanken daran sentimental. Den Tisch kann er zwar nach der Pensionierung nicht mitnehmen, aber mit der Zickzack-Maschine steht ein anderes Erinnerungsstück an den «Senior» in seinem Haus.

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Die BERNINA «Jubilae 125 J» aus dem Jahre 1945 – eines der Sammelstücke von Christian Ulmer. Foto: Lea Spinatsch und Luana Tonoli.

Vom Tüftler zum Sammler

Nicht nur wegen dieses einen Objekts gleicht das Haus von Christian Ulmer einem Nähmaschinenmuseum. Überall hängen alte Schilder und Skizzen von Nähmaschinen, und ein Raum ist gefüllt mit Kindernähmaschinen und über 200 Nähkästchen. Sie gehören zu den «Schätzen», die er auf Flohmärkten gesammelt hat. Einige sind hölzern, andere aus Karton oder Blech. In vielen befinden sich bunte Fadenspulen oder gar ein eingebauter Spiegel. Gerührt blickt sich Ulmer im Raum um: «Tja, die Nähmaschinen lassen mich nie ganz los.»

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Grosse Sammlung: Neben einigen Kindernähmaschinen stehen über 200 Nähkästchen in Ulmers Haus. Foto: Lea Spinatsch und Luana Tonoli.

Als er pensioniert wird, nimmt er sich vor, Nähmaschinen zu sammeln. Schnell muss er aber einsehen, dass das Haus bald aus allen Nähten platzen würde. So setzt er sich zum Ziel, von jeder der sieben Schweizer Marken eine Maschine zu besitzen. «Heute steht von allen ein Exemplar im Keller. Für mich persönlich ist das ein tolles Gefühl!» In seinem Zuhause sind es heute zwei Dinge, auf die er besonders stolz ist: Zum einen seine Sammlung – und zum anderen? «Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich einmal aus meinem eigenen Wohnzimmer schauen und den Schienerberg am Seeufer sehen kann. Eigentlich war das völlig utopisch.» Heute ist es Realität: Ulmer sitzt in seinem Sessel und blickt sowohl auf Steckborn als auch auf die Bernina Werke – beide haben sein Leben nachhaltig geprägt.

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Christian Ulmer hat seinen Blick stets auf dem Schienerberg, Steckborn und der Bernina-Fabrik. Foto: Lea Spinatsch und Luana Tonoli.

Lea Spinatsch und Luana Tonoli
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024

Quellenverzeichnis