«Wenn ich mehr Führungen gemacht hätte, wäre ich zur Maschine geworden»
Als Gruppenführerin hat Ursula Kreienbühl fast 30 Jahre lang Besucherinnen und Besucher durch die Bischofszell Nahrungsmittel AG geführt. Sie kennt die Hallen der Fabrik in- und auswendig und hat miterlebt, wie sich die Produktion der grössten Arbeitgeberin der Region entwickelt hat.
Auf die sorgfältig gezüchtete Himbeerpflanze ist Ursula Kreienbühl besonders stolz. Foto: Fabienne Niederer und Mayra Schmidt.
Mit ruhigen Händen fährt Ursula Kreienbühl über die einzelnen Triebe ihrer Kletterpflanze, einem sorgfältig gezüchteten Himbeerstrauch, der sich an den Strängen des Drahtseils entlangzieht und der Sonne entgegenwächst. Auch der Rest von Kreienbühls Garten ist liebevoll gepflegt. In der Nähe von Bischofszell hat sie sich gemeinsam mit ihrem Ehemann eingerichtet. Sie kennt die Gegend gut − vor allem, wenn es um die wichtigste Arbeitgeberin der Region geht.
Fast 30 Jahre lang war Kreienbühl nämlich bei der Bischofszell Nahrungsmittel AG (BINA) angestellt und ist jeden Gang und jede Halle unzählige Male abgelaufen. Wo Tausende von Lebensmitteln verarbeitet und zum Verkauf vorbereitet werden, führte sie Besuchergruppen durch, um ihnen alle Herstellungsschritte zu zeigen. Die für ihre Fertigprodukte bekannte BINA wurde im Jahr 1909 von David Tobler gegründet und hatte damals noch ein leicht überschaubares Sortiment: Dörrfrüchte und verschiedene Trockenprodukte. Später vergrösserte sich das Angebot, bis 1945 schliesslich der Migros-Genossenschafts-Bund das Unternehmen aufkaufte und für die Produktion von eigenen Artikeln verwendete.
Im BINA-Shop in Bischofszell konnte man alle Produkte der Fabrik und auch einige Bestseller kaufen. Foto: Fabienne Niederer und Mayra Schmidt
Der Weg zum begehrten Job als BINA-Guide
Ursula Kreienbühl wurde 1951 geboren und wuchs in Rüschlikon auf. Später zog sie mit den Eltern ins beschauliche Schweizersholz im Thurgau. Bis heute ist sie dortgeblieben. Kreienbühl liess sich ursprünglich als Ernährungsberaterin ausbilden und arbeitete auch einige Jahre auf diesem Beruf. Schon bald folgten aber Hochzeit und zwei Söhne. So war Kreienbühl, wie sie selbst sagt, «weg vom Fenster». Sie suchte deshalb eine flexible Teilzeitstelle, die ihr einen Ausgleich zu Familien- und Haushaltsarbeit bieten konnte. Sie wurde auf die offene Stelle bei der BINA aufmerksam, bewarb sich und wurde prompt eingestellt.
«Schönfärberei musste ich nie betreiben.»
Nach einer kurzen Schulung durfte sich Kreienbühl offiziell als Gruppenführerin der BINA bezeichnen, die auf Rundgängen durch alle Abteilungen der Fabrik führte. Für die Besucherinnen und Besucher waren diese Touren nicht immer einfach: «Manchmal ist jemand während einer Führung umgekippt», erzählt Kreienbühl. «Es gab sehr viele Treppen, zudem war es in manchen Produktionsräumen gerade mal fünf Grad warm, während in anderen 30 Grad herrschten.» Solche Stresssituationen waren für die erfahrene Mitarbeiterin Kreienbühl aber kein Problem, wie sie sagt. Eine Einschätzung, die man der Rentnerin sofort abkauft, wenn man auf den ruhigen, aber wachen Blick achtet, mit dem sie ihre Anekdoten erzählt. Mit demselben Blick führte sie fast 30 Jahre lang ihre Gruppen sicher durch alle Fabrikräume.
Es ist Vertrauen, das Kreienbühl ausstrahlt − in sich selbst und in ihre Arbeitgeberin. «Schönfärberei musste ich nie betreiben», sagt sie. Produkte aus der BINA landeten auch ausserhalb der Arbeit regelmässig auf dem eigenen Teller, was Kreienbühl immer wieder verteidigen musste. «Besonders Hausfrauen waren oft negativ eingestellt gegenüber solchen Fertigprodukten.» Deshalb habe sie erläutern müssen, weshalb es in einer Salatsauce Bindemittel brauche oder dass der Zusatzstoff Ascorbinsäure zwar gefährlich klingen möge, aber eigentlich nichts anderes als Vitamin C sei.
Ein BINA-Produkt, das Ursula Kreienbühl liebt: die Rösti. Foto: Fabienne Niederer und Mayra Schmidt.
Ursula Kreienbühl wirkt stolz, wenn sie von ihrer Zeit bei der BINA erzählt. Hätte sie ihre Arbeit als Guide nicht mit voller Überzeugung und Engagement machen können, so hätten das die Besucherinnen und Besucher bemerkt, da ist sie sich sicher. Ihr Pensum erhöhen wollte sie deshalb nie: «Wenn ich mehr Führungen pro Woche gemacht hätte, wäre ich zur Maschine geworden.»
Veränderungen im Laufe der Jahre
In den fast 30 Jahren, in denen Ursula Kreienbühl in der BINA arbeitete, veränderte sich einiges. «Als ich in der BINA anfing, konnten alle einfach so durch die Fabrik hindurchspazieren, egal in welcher Kleidung», erzählt sie. «Am Schluss wurde es fast schon unangenehm.» Lange Hosen, geschlossene Schuhe und Haarnetz seien Vorschrift gewesen, auch der Schmuck habe im Besucherraum bleiben müssen. Kreienbühl erinnert sich noch gut daran, wie es war, alle Besucherinnen und Besucher so genau kontrollieren zu müssen. «Wenn eine Person gemachte Nägel hatte oder ein Pflaster trug, musste ich ihr sogar Handschuhe anziehen.» Diese Regelung sei aber nicht von ungefähr gekommen: «Einmal wurde mitten in der Fabrik ein Gelnagel gefunden!»
«Ich würde diese Arbeit sicher wieder machen.»
Seit Covid-Zeiten werden in den Fabrikhallen keine Führungen mehr angeboten. Und auch die BINA gibt es heute nicht mehr − zumindest nicht unter diesem Namen. Erst im vergangenen Jahr fusionierte sie mit anderen Produktionsstandorten der Migros zur Fresh Food & Beverage (FFB) Group. Diese stellt mittlerweile über 6000 verschiedene Lebensmittel her − von Backwaren über Getränke bis hin zu Halbfabrikaten wie Tiefkühlgemüse.
Auf dem Höhepunkt der Firmengeschichte beschäftigte die BINA über 1000 Mitarbeitende. Foto: Fabienne Niederer und Mayra Schmidt.
Die Fabrik, die Kreienbühl so gut kennt wie ihre Westentasche, wurde nach der Fusion sogar ausgebaut. Und wenn Kreienbühl heute mit ihrem Auto am Fabrikgelände vorbeifährt, kommen vor allem positive Gefühle hoch. Sie hat dort so viel erlebt und unzählige interessierte Leute kennengelernt: «Bei den Führungen war vom Schüler bis zur Rentnerin und von der Hausfrau bis zum Spezialisten alles mit dabei», erzählt sie und strahlt. «Ich würde diese Arbeit sicher wieder machen.»
Ursula Kreienbühl verbrachte bereits während ihrer Anstellung bei der BINA viel Zeit im eigenen Garten. Fabienne Niederer und Mayra Schmidt.
Fabienne Niederer und Mayra Schmidt
Produktion im Rahmen eines Seminars am IAM Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW. © IAM / Historisches Museum Thurgau, 2024